Herr Schlommko Teil 2

Der Fremde

Herr Schlommko hatte die unruhige Nacht in seiner kantig ungastlichen Behausung in dem umgekippten Frachtschlitten verbracht, den er neben dem Magnoweg gefunden hatte. Kurz bevor jener unheimliche Niederschlag grünlichen Nebels ihn erwischt hätte, hatte er hier einen unbequemen Unterschlupf gefunden. In den frühen Morgenstunden des nächsten Zeniths hatte er die Notdecke von dem klaffenden Spalt in der Hülle des Schlittens gerissen und mit blinzelnd tränenden Augen herausgeblickt. Still und leise lag die Welt vor ihm. Die Sicht frei bis zum fernen, sich sanft wölbenden, lilan schimmernden Horizont.


Herr Schlommko schwang sich mit seinen Habseligkeiten aus dem Schlitten, anschließend kletterte er selbst zurück hinein. Er sah sich im Matten Licht im Innern des Gefährts um. Die Kontrollbildschirme an der Stirnseite waren geborsten, Kabel und Platinen aus den Geräten gerissen. Er blickte in das etwa 30 Schritt lange Gefährt. Kisten aus blauem und rotem Kunststoff lagen kreuz und quer, chaotisch, in dem schmalen Raum verteilt. Aufgehebelt oder beim Aufprall aufgeplatzt.


Herr Schlommko schaute in leere Kisten, durchwühlte den Schlitten. Alles brauchbare hatten offenbar frühere Gäste dieser Behausung mitgenommen. Frustriert, mit in Falten geworfener Stirn, schwang er sich wieder hinaus ins Freie. Er raffte seine Habe zusammen, wickelte sich erneut seine improvisierte Tasche um den Leib, tastete nach der kleinen Münze unter seinem linken Arm und marschierte weiter auf den Ort zu, der nun erreichbar nah schien.


Öde Steppe wich Strukturen von Feldern, durchzogen von Bewässerungsgräben, die Felder waren karg und leer, einzelne Schuppen bargen wohl Werkzeuge. Schwere Bearbeitungsmaschinen standen vereinzelt in kantigen Holzverschlägen. Weiter vorne erblickte Herr Schlommko erste Wohnbauten, kleine Hütten nur. Kinder spielten auf dem Weg vor ihm, sahen ihn aus der Ferne kommen und eilten ihm entgegen. Herr Schlommko sah das freudige Leuchten in den Augen der Kinder. Neugierig kamen sie näher, in ihren schlichten grauen Stoffkleidern, tanzten um ihm herum und sangen Kinderreime, die ihm seltsam vertraut vorkamen. Einige hundert Schritt tanzten die Kinder weiter, liefen und sprangen neben Herrn Schlommko her, der sich auf das Spiel einliess, sich sogar wage an ein paar der Lieder erinnerte, die er hier hörte, dann zogen die Kinder ihres Weges und Herr Schlommko war wieder allein auf seinem Weg.


Herr Schlommko stapfte weiter den Weg hinunter, den sanft pulsierenden Magnoweg neben sich. Er sah einige Fabriken. Schwarze Dampfschwaden stiegen aus surreal voluminösen Schloten über den Dächern der großen Fabrikhallen auf. Das dröhnen schwerer Maschinen ließ die Gebäude und die Erde unter ihnen sanft vibrieren.


Dann kamen die Häuser. Menschen verrichteten ihr Tagwerk. Er sah dem geschäftigen Treiben auf einem Markt zu, die Händler in ihren bunten Jacken und Mänteln, mit ihren aufwändigen Haartrachten, die Marktfrauen in ihren schlichten Wollkleidern mit den blauen, grünen und roten Hauben. Er sah die Bürger der Ansiedlung in ihrer schlichten Kleidung aus schwarzem und braunem Leder. Einige stachen aus der Masse heraus, in silbern und golden glänzenden, langen Roben.


Die Häuser der Ansiedlung waren üppig verziert. Eiserne Schnörkel lagen über den Fenstern der zwei- und dreigeschossigen Häuser, glatte Fassaden leuchteten in kräftigen Farben, sanft geschwungene Rundungen ließen die Häuser organisch aussehen. Elektrifizierte Terminals leuchteten und blinkten vor jedem Gebäude. Ein Pararoller trug einen Uniformierten an ihm vorbei, der Herrn Schlommko kurz musterte, dann aber seines Weges rollte.


Herr Schlommko marschierte weiter über den Markt, getrieben vom Gefühl, weiter zu müssen, nach Antworten zu suchen. Er passierte einen großen Holzverschlag im Zentrum des Marktes, in dem Gerade ein Baluthi geschlachtet wurde. Das Tier hing noch zappelnd an einem Gestell aus drei mit fein ästelnden, grünen Mustern verzierten Metallstangen. Kinder und Erwachsene scharten sich um das Spektakel. Im Vorbeigehen sah Herr Schlommko eben, wie dem Tier mit heißem Wachs Mund und Nase verstopft wurden. Seines Atems beraubt, zuckte der große Leib im Todeskrampf heftig unter dem Johlen der Masse hin und her während der Schnittmeister ein langes geschwungenes Messer aus einem großen Ledertuch auswickelte. Herr Schlommko beschleunigte seinen Schritt, hier wurde es leerer. Nur noch wenige Stände und Verschläge kleiner Handwerker in ihren schlichten Trachten waren rechts und links des Weges aufgereiht.


Ein Hubtaxi schwebte etwa zehn Schritt über Herrn Schlommko zwischen den Häusern in Richtung Zentrum. Die tiefschwarze Karosse begrenzt von blauen und gelben Lichtern. Das Hubfeld liess die Luft um Herrn Schlommko Wellen schlagen und er spürte einen leichten Druck auf den Schultern. Er blickte dem schwebenden Gefährt hinterher, als er eine sonore Stimme Hörte.


„Carl? Carl Schlommko?“


Er drehte sich um. Der Mann hinter ihm war ein gutes Stück größer als er, kräftig, die muskulösen Unterarme bedeckt von blauen und roten Mustern. Sein breites Kinn liess das offene Grinsen beinahe unwirklich wirken, das Strahlen seiner gelbgrünen Augen schien von innen heraus zu leuchten. Carl? Herr Schlommko suchte angestrengt in seinem gesprengt fragmentierten Geist. Carl Schlommko? Das war sein Name. Der da kannte ihn. Er hatte eine Verbindung gefunden. Er ging drei kurze Schritte auf den Fremden zu. „Sie kennen mich?“ fragte Herr Schlommko. „Klar kenn ich Dich, was ist denn los?“


„Ich brauche Hilfe.“ sagte Herr Schlommko. Carl. Der Fremde klopfte Herrn Schlommko auf die Schulter und brummte ein freundliches „Na, dann komm mal mit, Carl. Und erzähl mir, was los ist.“


Gemeinsam gingen die beiden Männer den Weg hinunter in Richtung des zentralen Turms.

Der Hüne

Carl Schlommko ließ den Blick über das breite Kreuz des Mannes gleiten, der ihn zu kennen schien. Die Muskulatur des Mannes zeichnete sich deutlich über der ärmellosen grauen Tunika ab, sein Gang war elegant, fast tänzerisch, wie ein warmer Windhauch bewegte der Mann sich durch die Passanten, die ihm, wie Nebel dem Wind, auszuweichen schienen.


Mit dieser Begegnung war eine Last von Carl Schlommko gefallen. Nach Tagen der hektischen Flucht, des Gejagtseins, folgte er nun. Verstohlen tastete Carl Schlommko nach dem kleinen Bronzestück unter seinem linken Arm, während er mühsam Schritt hielt. Die Nebel der Menschen, die den Weg zwischen den Häusern bevölkerten, schienen hinter seinem Führer zusammenzuschlagen wie Wasser. Immer wieder stieß Carl Schlommko hart gegen Entgegenkommende, wurde gestreift, geschubst. Herr Schlommko suchte in den Häuserschluchten, in den Gesichtern, in allem, was er sah, nach einem Funken der Erkenntnis. Er hoffte darauf, dass irgendetwas irgendetwas in ihm auslöste, eine Erinnerung, ein Schemen, irgendetwas, das ihn mit seinem früheren, vergessenen Leben in Verbindung brachte. So sehr er auch suchte, die weiß gewischten Seiten seiner Erinnerung blieben weiß.


Der Hüne drang weiter und weiter in Richtung Zentrum vor, die Wege wurden voller. Herr Schlommko passierte noble Geschäfte voll von Schmuck, Brokat und Leckereien, überfüllt von geradezu absurd aufgetakelten Männern und Frauen in glitzernden und blinkenden langen Roben. Die spektakulärsten der Roben verziert mit aus sich selbst heraus leuchtenden und blinkenden kleinen Punkten und Mustern, gekrönt von aufwendigen Kopfbedeckungen. Die schlichten, organisch wirkenden Hausfassaden der Marktregion wichen aufwändigen, mit blinkenden und glitzernden Steinen besetzten, symmetrisch runden und eckigen Bauten mit hohen Fenstern.die den Blick von außen nach innen nicht hindurch liessen.


Wenige dutzend Schritt vor dem Zentralturm, dessen sanftes Licht über ihren Häuptern pulsierte, bog der Hüne zur Rechten ab, folgte einem Ringweg, der in gleichem Abstand um den Turm herumführte. Hier lief kaum noch jemand. Sie folgten dem Weg eine Weile, als der Hüne sich umdrehte, „Nun erzähl schon, Carl, Du siehst aus, als hätte Dich ein Baluthi durchgekaut und ausgespuckt. Hast Du sie gefunden?“


Fieberhaft überlegte Carl. Was oder wen soll er gefunden haben? Er spürte ein sanftes Gewicht unter seinem linken Arm wachsen. Fühlte wärme, die ihn umschlang, sanfte, schleierhafte Tentakeln, die seinen Hals hinauf zu seinem Kopf krochen.


Schemenhaft sah er aus seinen eigenen Augen, goldglänzend und flirrend, einen Raum. Er war nicht alleine dort. Er sah eine Gruppe Männer und Frauen um sich herum stehen. Er selbst saß auf einem aufwendigen Stuhl mit hoher Lehne und durchtriebenen Verzierungen an den Armlehnen. Sein Kopf war zum Himmel gereckt, der Mund weit aufgerissen und ein Lichtstrahl schien aus seinem Gesicht nach oben zu strahlen. Oder strahlte etwas in ihn hinein? Seine Hände verkrampften sich um die verdorbenen Lehnen dieses unsäglichen Stuhls, der mit ihm zu verschmelzen, ihn festzuhalten schien.


Carl Schlommko stöhnte und beugte sich vor um zu erbrechen, als er die Hand des Hünen unter seinem Arm spürte, die ihn stützte. „Alles klar?“ fragte der Mann mit seiner warmen, durchdringenden Stimme. „Ich muss ausruhen.“ sagte Carl Schlommko. Mit den Worten „Gleich sind wir am Ziel.“ zog ihn der Mann weiter. Stütze ihn.


Sie erreichten eine blau schimmernde Tür in einer schlichten, leicht geschwungenen, weißen Wand. Hier, in den Hinterhöfen und Nebengassen, hatten die Gebäude kaum Fenster, nur schmale Hintertüren gewährten einen unauffälligen Weg in die Gebäude. Der Hüne hielt das Muster an seinem Unterarm vor ein kleines Terminal neben der Tür. Das Terminal blinkte und ein sanftes Klicken signalisierte, dass das Gebäude den Zutritt gewähren würde. Der Mann öffnete die Tür mit seinem rechten Fuß, während er Herrn Schlommko weiter stütze und ins Gebäude führte.


Eine junge Frau in einem schlichten, graugrünen Einteiler stand wenige Schritte vor ihnen, eine rötlich schimmernde Karaffe voll einer dickflüssigen Substanz in der linken. Der Hühne starrte sie kurz an und blaffte dann „Matti, hohl Wasser und etwas zu essen. In den Saal!“ Die ‚Matti‘ genannte Frau deutete eilig einen Knicks an und verschwand den langen, leicht geschwungenen Gang hinunter.


Der Hüne schob Herrn Schlommko den Gang hinunter und links durch eine Tür, die bei Annäherung sanft zur Seite glitt. In der Mitte des Raumes, den sie betraten, plätscherte fröhlich ein kleiner, nebelnder Brunnen. Die Nebelschwaden aus dem aufwendig verzierten Becken in dessen Mitte eine Figur, das Abbild einer Frau mit absurd langem, gewundenen Hals drehte, glitten langsam und schwer zu Boden so dass Herr Schlommko seine Füße kaum mehr sehen konnte. Es war, als schritte man über eine Wasserfläche von leichtem Rosa. Die Wände des Raumes waren übersät mit Zierrat, Bildern, Skulpturen. Eine Wand barg ein mehrere Schritt langes, 4 Schritt hohes Regal, dessen Bretter sich unter der Last von Papierbüchern, Pergamenten und Lesekristallen bogen.


Der Hüne wies Herrn Schlommko eine weich gepolsterte, tiefrote Liege, auf der Herr Schlommko sich dankbar niederließ, seinen Mantel und die improvisierte Tasche ablegte. „Nun sag schon,“ sagte der Hüne, „Hast Du es? Wie ist es Dir ergangen?“. Der Blick des Hünen suchte in Carl Schlommkos Mine eine Reaktion. Carl Schlommko versuchte, sich zu erinnern.


„Was?“ fragte Herr Schlommko. „Ich…. Ich…. hmmmm…“ er grübelte. Was war hier falsch? Er blickte sich in dem Raum um. Kein Erkennen. Er sog den süßlich blumigen Duft ein, der die Luft dieses Raumes schwängerte. Was sollte er tun. Dieser Hüne war seine einzige Verbindung. „Ich glaube“ sagte er und atmete dabei lange aus „Ich glaube, was immer ich getan habe, es hat irgendetwas angerichtet. Ehrlich gesagt, kann ich mich im Moment nur an die letzten zwei Tage und an meinen Namen erinnern.“


Der Hüne lächelte ihn freundlich, etwas verwirrt, an. Herr Schlommko sah eine gewaltige Faust auf sich zuschnellen. Dann wurde es schwarz.

Die Verschmelzung

Valeria stand in einem See aus grün und blau schimmernd nassem Nebel, das flachsige Haar klebend an ihren Schläfen, auf ihrer Stirn, ihr die Sicht verhängend. Sie watete durch den Ölig triefenden Nebel der sie an den Köcheln festzuhalten trachtete, an ihr sog und zog, ihre dürren, nackten Beine heraufkroch. Valeria sah hinter einer Wand von flirrenden lilanen und roten Lichtern in der Luft ein flaches Bauwerk auf einer Insel, gerade Säulen, ein knorrig wirkendes Dach auf sich tragend. Dunkelblaues Licht pulsierte in dem Gebäude, ein blassgelbes Leuchten schien von oben herab auf das Dach.


Valeria begann, auf den Tempel zuzuwaten. Auf Händen und Füßen kroch sie durch die Kloake, die ihren Rücken, ihren Hals hinaufkroch, ihr Sicht und Atem nahm. Sie wischte mit ihrem knochigen Arm die zähe Masse von ihrem Gesicht, sah in der glänzenden Oberfläche der nebligen Pampe unter sich ihr Spiegelbild, leichenblass, knochig, wie der Schädel eines toten aus dessen tiefen Höhlen ihr ihre eigenen Augen zur Unendlichkeit vergrößert, hohl entgegenblickten.


Die Suppe kroch in jede Falte ihres blassen, schwachen Körpers während der Grund sich unter ihr hindurch nach hinten schob, ihre Hände den Halt verloren. In allen Farben schimmerte der schmutzige Film auf ihrer Haut wie Edelsteine oder die flirrende Beleuchtung jener aufwendigen Fassaden der Häuser von Laciph, jener Stadt, in der sie einst dem Schoß ihrer Mutter entglitten war, die die Anfänge ihrer selbst bedeutet.


Sie blickte nach oben in den blassgelben Strahl hellen Lichts, der sanft pulsierend den Schrein beleuchtete, der ihr immer näher kam. Die Quelle des Lichts. Ein Schemen. Sie richtete sich auf, streckte die knarrenden und knarzenden Glieder, reckte den Kopf hinauf, blickte gerade nach oben, nur noch wenige Schritte entfernt von der unendlich verkleinerten Karikatur eines Tempels, kaum höher als ihre Hüften, innen von pulsierendem, blauen Leuchten erfüllt, das sich dem herabdringenden strömenden Lichtstrahl entgegenstemmte.


Am Ausgangspunkt des Lichtstrahls blickte sie in das Gesicht des Fremden. Mund und Augen leuchteten und spien das fließende Licht aus. Sie wusste, er sah sie, sie krallte ihre linke in das knorrige Dach des Schreins, das blau dampfende Licht in sich aufnehmend, als der helle Strahl flüssigen Lichts, das dem Gesicht über ihr entsprang, an Kraft gewann. Valeria stemmte sich mit all ihrer Lebenskraft gegen diese Gewalt, saugte das schwache blaue Leuchten des Schreins in ihren Geist, gab ihren Herzschlag, ihren Odem, ihre Seele hinzu und sandte die Masse all ihren Seins in einem kräftigen blauen Strahl dem sanft lächelnden Gesicht über sich entgegen.


Blau und lichtes Gelb trafen sich, verschmolzen, eine pulsierend leuchtende Kugel von blitzendem Weiß dehnte sich aus, verschlang beide, dehnte sie zur Unendlichkeit, verzerrte ihre Leiber, die ineinander verschmolzen und in einem hellen Lichtschein Schwärze entstehen liessen. Die Schwärze breitete sich aus, verschlang den Tempel, den Nebel, die Welt und kollabierte in einem Geräusch, welches ein Universum gebären kann, zu einem winzigen Punkt des Nichts.

Rekursion

Carl Schlommko sah das blau leuchtend verzerrte Gesicht im dickflüssigen Nebel über sich. Etwas sprengte aus seinem Gesicht, verzerrte seine Sicht, riss seine Augen auseinander und ließ sie wieder aufeinanderprallen. Er blickte in die fernen Augen der Frau, das Gesicht zu einem schrillen Lachen verzerrt wölbte er sein Sein um das Licht, das ihm entströmte, schraubte sich wie ein . Die Augen der Frau waren wie große Schalen voll blauen Lichts, das pulsierend aus ihr herausströmte, Herrn Schlommko entgegenschnellte. Herr Schlommko riss Mund und Augen auf, das Licht verschlang ihn, riss die tiefsten Tiefen seines Seins nach oben und schleuderte sie hinaus wie in einem Rausch aus blauen und roten Blüten die vor seinen vernebelten Augen trieben. Ein Geräusch aus der Unendlichkeit explodierender Sterne breitete sich um die Frau und Herrn Schlommko aus, als blaues und gelbes Licht sich trafen, verschmolzen, eine pulsierend leuchtende Kugel blitzenden Weiß‘ sich ausbreitete, sie und ihn verschlang, umstülpte und schließlich in einer Explosion aus Schwärze fallen ließ.


Herr Schlommko zog seinen Mantel enger um seinen bibbernd zitternden Körper, blaues und weißes Licht tanzte in seinem Blick, schwarze Flecken verdämmerten seine Sicht. Er setzte weiter einen Fuß vor den anderen. Auf der anderen Seite der asphaltierten, ölig schimmernden Straße, stand wie eine Wolke hässlichen Gestanks der Dicke Mann Herr Schlommko fühlte Unbehagen, als der Dicke Mann ihn mit seinen stahlblauen Augen durchdrang, ihn wie in einer Fritteuse in seinem Blick baden liess. Herr Schlommko fühlte sich verletzlich und leer.


Die Frau auf der anderen Seite des Fußgängerüberwegs hatte das Haupt still geneigt und starrte auf die ausgefransten Enden ihrer Schnürsenkel. Es war dieses Gesicht, das sich in seinem Geist festgebrannt hatte. Dieses blaue Leuchten, diese Augen, die die Welt umschlingen konnten. Ein Bus fuhr langsam die Strasse herunter. Das Fahrzeug hatte seine besten Tage längst hinter sich gelassen. Zierleisten hingen von der Karosserie herab, die Frontscheibe war gesplittert. Der Bus hielt und die Tür des Busses öffnete sich, um Herrn Schlommko einen flüchtigen Blick auf die wärmenden Sitze zu gewähren.


Herr Schlommko versuchte, seine Gedanken zu sortieren, neblige Rauchschwaden kreisten in seinem Geist, immer wieder durchbrochen von Bildern. Seine Gedanken wirbelten um Schildkröten und brennende Berge, als er plötzlich das strahlende Weiß der Bordsteinmarkierung wahrnahm und aufwachte….

Dualität

Dunkelheit umschlang Herrn Schlommko und Valeria und sie umschlangen einander in Dunkelheit und Ewigkeit. Wärme durchströmte das neu entstandene, gemeinsame Wesen aus beiden.


Herr Schlommko erwachte in totaler Dunkelheit. Leuchtend blaue und gelbe Punkte tanzten vor seinen geschlossenen Augen. Er öffnete Sie. Dunkelheit. Totale Dunkelheit. Kein noch so kleiner, schüchterner Lichtschimmer fand den komplizierten Weg zu jenem Ort, an den Herrn Schlommko sein unverhofftes Erwachen verschlagen hatte. Herr Schlommko tastete sich vorsichtig ab. Hämmernd dröhnender Schmerz lähmte sein Gesicht und seine Arme. Er tastete nach seinem Auge, seiner Nase. Ein stöhnend krächzender Klang entwand sich seiner Kehle, seine Hand zuckte zurück. Der peinigende Schmerz im Gesicht wurde von dem stechend ziehenden Schmerz der ruckhaften Bewegung des Armes nicht übertönt. Seine Hand fand erneut sein malträtiert zerrüttetes Gesicht. Diesmal vorbereitet auf den durchdringenden Schmerz, betastete er die Schäden. Das rechte Auge war pulsierend angeschwollen, die Nase dick, blutig, zertrümmert.


Herr Schlommko richtete sich stöhnend auf, tastete nach der harten Kante der steinernen Liege, auf der er erwacht war. Verschwommen wabernde Bilder tanzten vor seinen Augen. Die Frau, der Dicke, der Hüne, der ihm das Gesicht zertrümmerte, gelbe und blaue Flecken tanzten durch die goldgetränkt leuchtend flirrenden Bilder, während seine zittrigen Füße festen Grund suchten und fanden.


Valeria erwachte in totaler Dunkelheit. Verwirrt und hilflos spürte sie dumpf pochenden Schmerz in ihrem Gesicht. Ihre Hand schnellte hoch und zuckte ebenso schnell zurück als der stechend beißende Schmerz ihre Nase durchströmte wie pure Energie.Vorsichtig versuchte sie es erneut, ertastete die skurrilen Schwellungen in ihrem Gesicht, spürte ihre Nase, die wie Brei unter dem sanften Druck ihrer Finger nachgab, schmeckte das Blut, das ihr Gesicht herunter auf ihre Lippen lief.


Valeria richtete sich auf in totaler Dunkelheit. Kein Licht. Kein Geräusch, außer dem ihres eigenen Atems. Sie spürte Kraft sie durchströmen. Als wäre er wieder da.
Valeria suchte und fand. Der Kulvus. Warm, willkommend umarmend durchströmte ihn seine uralte schlummernd ruhende Kraft. Valeria hob die Hände nahm das sanfte Leuchten ihrer von der Macht des Kulvus durchströmten Adern wahr, spürte, wie die pulsierende Kraft den Weg durch ihren Körper fand und sie wieder herstellte. Der Schmerz verhallte wie das Echo eines längst vergessenen Rufes. Valeria raffte ihren Mantel um sich und Schritt durch den von Dunkelheit erfüllten Raum, legte ihre Hand auf die schwere, hölzerne Tür. Schwaches Leuchten durchströmte das Holz und Valeria glitt durch die Tür als wäre sie ein Geist.


Herr Schlommko fand sich unvermittelt in einem dunklen Gang wieder. Der Schmerz in seinem Gesicht, seinen Gliedern, war verflogen wie ein dunkler Nebel seiner Erinnerung. Er tastete nach der bronzenen Münze. Sie war noch da, pulsierte leise unter seinem linken Arm. Panik erfasste Herrn Schlommko und er rannte blind um sich tastend den schmalen Gang hinunter, stürzte eine unregelmäßig rohe Treppe hinauf und brach durch eine morsche Holztür ins Licht.

Es fügt sich

Der Schatten war seinem Instinkt gefolgt, das Ufer des Sees entlang. Immer wieder unterbrach er seinen Marsch, um sein neues Gesicht in der wabernden Oberfläche des Wassers zu betrachten. Die Erinnerung an sein Sein als tanzender, muffiger Schatten des Dicken Mannes verblasste langsam und an Stelle des Dunklen Inhalts seiner Selbst trat mehr und mehr etwas anderes.


Der Schatten erinnerte sich mit jedem Schritt, den er voran trat, an neue Eindrücke, aufflackernde Lichter einer ihm unbekannten Vergangenheit. Er sah Landschaften von bezaubernd farbenfroher Fülle an Leben, erblickte Welten fernab der hiesigen. Der Schatten beugte sich ein weiteres Mal über die sanften Wellen des ihm zu Füßen liegenden Sees und tastete mit unbeholfenen Fingern sein Gesicht ab, blickte dem Alten, der ihn freundlich ansah, in die Augen. Ausdruckslos starrte der Schatten in das lächelnde Spiegelbild dessen goldglänzende Augen seinen Blick einfingen und umschlungen.


Herr Schlommko brach hinaus ins Licht des anbrechenden morgens, das bunte Punkte vor seinen Augen tanzen liess. Das kleine Bronzestück pulsierte unter seinem linken Arm, zog ihn herunter. Herr Schlommko blickte an sich herunter, entkleidet, nur in Unterwäsche stand er im Innenhof des Hauses, in das ihn der Hüne begleitet hatte, tiefdunkelrotes Blut troff von seinem rechten Arm, den er sich beim Durchbrechen der nun schief in ihren Angeln hängenden Holztür aufgerissen hatte. Die Schmerzen in seinem Gesicht waren vergessen. Gehetzt sah er sich in dem Innenhof um, erblickte eine abstrus groß und wuchtig anmutende Liege, bedeckt von einem hellrosanen Laken. Er griff eilig das Stück Stoff und band es zu einem improvisierten Umhang, schlang die Enden über Kreuz und knotete sie vor seiner Brust zusammen. Seine Hände taten all dies von alleine, als hätten sie nie anderes getan.


Herr Schlommko lauschte, doch kein Geräusch drang an seine Ohren. Der Innenhof hatte keinen Ausgang, drei Türen führten in verschiedenen Richtungen ins Haus, eine Tür, zerbrochen in ihren Angeln hängend, in den Keller. Die verschlossenen Türen liessen sich nicht öffnen. Er erinnerte sich an den Öffnungsmechanismus und versuchte seinerseits, das sanft pulsierende Muster auf seinem Unterarm an eines der Sensorfelder zu halten. Nichts geschah.


Einer inneren Kraft, die ihn zog, folgend, machte Herr Schlommko kehrt und eilte leise zurück in den Kellergang, folgte dem dunklen Pfad bis hin, zurück zu seinem Gefängnis. Diesmal hatte sich seine Sicht der Dunkelheit angepasst, die von einem leichten Lichtschimmer aus dem Innenhof erhellt wurde. Er öffnete die Tür und fand seine Kleidung und die Notdecke mit seiner Habe, aufgerissen und zerwühlt. Auch seine Kleidung war durchsucht worden, lag zerfleddert, die Taschen auf links gestülpt, auf einem kleinen Schemel von morschem Holz. Eilig griff Herr Schlommko seine Kleidung und schlüpfte hinein, griff seine Habe und schlang sich einmal mehr die Notdecke als Tasche um den Leib.


Valeria schrak in einem Lichtblitz hoch, suchte Orientierung, sie war zurück in dem Raum, aber diesmal mit leicht schimmerndem Licht. Sie blickte an sich hinunter, sah den Mantel, den sie trug. Der Mantel? Was war mit diesem Mantel? Sie liess den Blick nochmals durch den kleinen Raum schweifen, der Raum hatte nichts zu bieten. Valeria machte kehrt und betrat den Gang, wendete sich nach links, fort von dem Licht, das ihren Weg leicht erhellte. Sie fand eine schmale Treppe, die nach oben führte, folgte ihr bis zu einer Tür, die sie leise öffnete.


Der Prunk
schon des Flures in den sie nun trat, verschlug ihr den Atem. Der Raum, hoch wie drei Männer, oben eine offene Empore, begrenzt von einem filigran gearbeiteten, vergoldeten Geländer, unter der Decke zwei mächtige, ausladende Kronleuchter, die elektrifizierten Lichter eingerahmt von bunt transparenten Steinen aller Farben und Schattierungen, die Wände beschlagen mit silbergerahmten, tiefroten und dunkelblauen Stoffen.


Valeria eilte den breiten Flur hinunter zur zweiflügligen, hohen Tür, durch deren farbige Kristallscheiben Tageslicht hereinschwappte, blickte rechts und links in die sich öffnenden Zimmer, lauschte. Stille. Nur ihre leisen Schritte auf dem flauschig dämpfenden Teppich. Sie öffnete die Tür die geräuschlos aufglitt und trat hinaus ins honigfarben glänzende Licht des Flaniersteges.


Herr Schlommko sah die Welt wie im Zeitraffer vorübergleiten. Der Dunkle Gang, der überwältigend prunkvolle Flur, die große, doppelflüglige Tür. Erst auf dem Weg vor dem Haus gewann er wieder die Macht über seinen Körper. Gehetzt blickte er auf seine ihm fremden Hände, ging einige Schritte in Richtung des hohen zentralen Turms, machte dann, einer inneren Stimme folgen, kehrt und eilte in die andere Richtung davon, bog mehrmals rechts und links ab, keinem besonderen Muster folgend, bis er endgültig die Orientierung verloren hatte.


Der Alte blickte sanftmütig lächelnd durch die Wasserfläche ins Gesicht seines blassen selbst, das ihn von der anderen Seite aus unverwandt anschaute. Goldenes Licht entströmte den Augen des Alten, als er über die Erinnerungen seiner selbst und seines Gegenübers sinnierte. Leere schwappte ihm von seinem Gegenüber entgegen, das versuchte, seine Gedanken zu sammeln, sein Selbst zu finden. Das Selbst des Schattens war erst wenige Stunden alt. Wie sollte es diesen Kampf gewinnen, der von Güte, Wissen und Erfahrung geführt wurde. Farbe drang in das Gesicht des Schattens. Die Vögel und Insekten sahen das leichte goldene Schimmern auf der Haut des Wesens, das da am Wasser kauerte. Das Gesicht am Wasser und das Gesicht im Wasser synchronisierten sich in leichtem Rauschen. Als der Schatten sich erhob, war er fort. Gewichen dem Selbst des Alten, in sanftem Leuchten stellte er sich aufrecht hin, betrachtete sich noch einmal in dem sanft gewellten Wasser, ließ den Blick über seinen verletzten linken Arm gleiten, der noch während dieses Moments sanft zu glühen begann und sich wieder herstellte.


Der Alte schlenderte langsam los in die Richtung, in die der Schlommko im Wald verschwunden war. Die Anwesenheit der Dicken und des Schattens waren klare Zeichen. Sie zeigten ihm, dass die Zeit gekommen war, sein Exil zu verlassen. Respektvoll öffneten die Äste und Wurzeln des Waldes einen Pfad für den Alten.

Intermezzo II

Katzengleich gleitend schritt der Pilot durch den Wald, sprang behende über Wurzeln und Astwerk, wich tief hängendem Geäst aus, kein Geräusch deutete auf die Schlanke Gestalt hin, die sich ihren Weg durch das Gehölz bahnte. In seinem Geist sah er stets das sanft pulsierende Display, das seine Sicht überlagerte, ihm Informationen zu seinem Weg gab, eine Karte der umliegenden 10 Minuten Fußmarsch einblendete. Er veränderte den Maßstab, ließ sich einen Tagesmarsch einblenden, schaltete die Sensorik auf maximale Reichweite, was ihm Schmerzen zwischen den Schläfen verursachte. Nach wenigen Augenblicken fuhr der Pilot die Leistung zurück, speiste Energie in die Selbstreparatur. Der Schmerz liess nach. Häufig konnte er das nicht machen.


Er musste das Zentrum des Signals finden. Irgendwo hier in der Nähe musste es seinen Ursprung haben. Es schien, als sei es verstummt.


Der Pilot eilte weiter durch den Wald, bis er offenes Feld erreichte, er sprang über ein Band leuchtender sich bewegender Flecken und beschleunigte seinen Lauf, er rannte und rannte geradeaus.

Symbiose

Herr Schlommko irrte in den Häuserschluchten umher, ließ sich von seinen Füßen treiben und tragen. Gesichter tauchten auf und verschwanden, schrill glitzernde Gewänder geziert von farbigen Displays sich verändernder Bilder, Hausfassaden voll von glitzernd glänzenden Steinen und Perlen in Orange, Türkis, Blau, Grün, Gelb und allen Farben, die das Auge je gesehen haben mag.


Die organisch anmutenden Formen der Gebäude des Zentrums wichen schlichteren Strukturen, die Gewänder verloren an Glanz und Glitzer, das schrill schallende Gekicher der flanierenden Damen wich dem trüben Blick der grau gewandeten Arbeiter und Arbeiterinnen der äußeren Bezirke. Das Leuchten des Turmes, das den Ort überstrahlte, wurde trüber mit jedem Schritt, den Herr Schlommko sich vom Zentrum entfernte.


Etwas fremdes war in ihm, das spürte er. Er tastete einmal mehr nach dem nun warm strahlenden bronzenen etwas, das sicher unter seinem linken Arm verschnürt war, ließ seine Hand unter seinen Mantel, unter seine Tunika gleiten, ertastete das warm pulsende Metall. Im Moment der Berührung zuckte Herr Schlommko zusammen, krümmte sich hechelnd, sank zu Boden. Die Welt um ihn herum verschwamm im welligen Blau eines Ozeans aus Licht der ihn verschlang. Bleiern drang wie Öl das, was ihn umgab, in seinen Mund, seine Nase, seine Lunge, durchdrang seinen Körper während sein Blick sich schärfte. Objekte schwebten um ihn herum, er sah das strahlende Licht der Sonne, zum greifen nah, schwamm im ätzenden Regen der Wälder, sprang schwerelos von Blatt zu Blatt eines hellgelb sich wölbenden Baumwipfels.


Herr Schlommko richtete sich auf, gewandet in ein wallendes Kleid von gelben Blättern stand sie vor ihm, die Jägerin, die, die ihm den Dicken Mann nachgejagt hatte. Sie war es. Die monströse Blässe aus ihrem Gesicht gewichen. Die Lippen voll und von tiefstem rot. Die Augen strahlend von einem hellen Blau, das aus sich heraus zu leuchten schien, schwebte sie auf dem höchsten Blatt des Wipfels, umströmt vom alles umgebenden Blau und doch unberührt davon.


Valeria sah den Mann vor sich in den Baumwipfel heraufgleiten, von Blatt zu Blatt schwebend. Wie gefangen in einem Traum schwebte sie selbst über den Baumwipfeln, gewandet in prächtig rauschendes Gelb. Sie blickte dem Mann in die Augen, diese trübgrauen Augen, die die Unendlichkeit gesehen hatten und aus denen die Unendlichkeit sprach. Sie spürte die Anwesenheit des Kulvus in diesem Mann, spürte, dass der Kulvus in ihm und er in dem Kulvus eine neue Heimat gefunden hatten. Trauer überkam Valeria, die den Blick nicht von diesen Augen lösen konnte. Äonen standen sich der Fremde und Valeria gegenüber. Er, den der Kulvus zu seinem neuen Hüter erwählt hatte und sie, die das Privileg, den Kulvus verwahren zu dürfen, verloren hatte.


Valeria löste mühsam den Blick von diesen Augen, wie im Traum verschwamm die Welt um sie herum in blau schwappenden Licht. Valeria betrachtete den Fremden vor ihr, den schlaff herabhängenden Mantel, die drahtigen Hände, sie erkannte die schlichte, helle Tunika unter dem Mantel, die weit fließend geschnittene Hose. Der Mantel… sie kannte diesen Mantel. Wie ein Hammerschlag traf die Erkenntnis auf Valerias Geist. Sie war er, er war sie. Sie hatte den Kulvus verloren, und doch hatte er sie zurückgeholt. Er war nicht der Hüter des Kulvus, nicht allein. Sie beide waren es. Der Kulvus hatte sie zurückgerufen.
Licht explodierte vor ihren Augen und die Welt zerfaserte in Öligen Schlieren als Schwärze über sie kam.


Herr Schlommko sah Erkenntnis in den strahlend leuchtenden Augen der Frau, die ihn musterten, jede Faser seines Seins in sich aufzusaugen schienen, als die Welt um ihn herum von einem Augenblick auf den nächsten kollabierte und er sich wiederfand, kauernd, zusammengerollt auf der Erde liegend. Menschen standen um ihn herum, eine Frau hatte sich über ihn gebeugt, die Hand auf seiner Schulter. Gütige Augen blickten ihn in Verwirrung gefangen an. Herr Schlommko rappelte sich unbeholfen auf, raffte seinen Mantel enger um sich, streifte die helfende Hand ab und ging zügig fort, folgte der nächsten Abzweigung auf einen breiten Weg mit eingefassten Flanierstegen zu beiden Seiten. Hubtaxen ließen die Luft auf dem breiten Mittelstreifen flirren, ein klapprig rostiger Dampfwagen wurde von einem kräftigen Mann mit pechschwarz wallendem Bart und nackt verschmutzem Oberkörper unter den Hubtaxis hindurch gesteuert. Hustend und sich schüttelnd versuchte der bärtige, dem Dampf seines Wagens, der durch die Hubtaxis am Boden gehalten und verwirbelt wurde, zu entgehen. Antriebsräder und Riemen zuckten und zitterten, rotierten und eierten an dem zehn Schritt langen, drei schritt hohen Gefährt mit den ebenso hohen nietenbesetzten Stahlrädern.


Einem Impuls folgend, eilte Herr Schlommko ans hintere Ende des Dampfwagens, griff nach einem sich drehenden Antriebsrad und ließ sich von der Drehbewegung nach oben ziehen auf die kleine Plattform am Heck des rumpelnden Wagens. Er kauerte sich zusammen und lauschte dem klappern und dem dumpfen Schlagen des Dampfantriebs, schütze Mund und Nase mit dem Stoff seines Mantels, während der Dampfwagen anderen Gefilden entgegensteuerte.

Kennenlernen

Herr Schlommko sah die Welt rückwärts an sich vorbei eilen, blickte in den Weg, den er gekommen war, sitzend auf der schmalen Plattform am Heck eines Dampfwagens, auf den seine Füße ihn getragen hatten. Hubtaxis wirbelten den rußig rauchenden Qualm und Dampf der gewaltigen Maschine, die den Wagen antrieb, immer wieder nach unten. Schon nach kurzer Zeit waren Mantel, Hände und Gesicht von Herrn Schlommko von einem Schleier dunklen, klebriges Rußes bedeckt.


Herr Schlommko sah die Gebäude. Im Zentrum hatten sie Pracht, Prunk. Hier blieb nur noch das pragmatische, einfache. Eckig einfache Bauten, die flachen Dächer gedeckt mit Büscheln saftigen Moorgrases, einige zu blassgrauem Gelb vertrocknet, andere noch grünlich glänzend. Das Dumpfe Pochen der Dampfmaschine und das Rumpeln der gewaltigen Räder versetzten Herrn Schlommko in Trance, füllten seine Welt bald komplett aus. Vor seinem inneren Auge sah er die letzten Stunden und Tage erneut. Die stechend blauen Augen des Dicken Mannes, der Dicken Männer. Die durchscheinende Blässe der Frau, seinen Sturz, die Güte des Alten. Er griff nach der Notdecke, die er noch immer um den Leib geknotet trug, in ihr seine wenige Habe, ertastete die kleine Feuerbox, umklammerte sie mit seinen Händen, bis die Knöchel rot unter dem Schleier aus Ruß und Schmutz zu leuchten begannen.


Ein Pararoller mit einem Uniformierten rollte kurze Zeit hinter ihnen her. Der Uniformierte musterte die verrußte Gestalt auf dem Dampfwagen, beschloss aber, dass diese abgerissene Gestalt keiner weiteren Aufmerksamkeit würdig war. Herr Schlommko schloss die Augen, in den Händen die kleine Feuerbox und ließ sich von den dumpfen Geräuschen des Dampfwagens einlullen. Herrn Schlommkos Geist strömte aus, legte sich in Wellen über den Dampfwagen, schwappte über die gewaltigen, rumpelnden Räde auf den Weg, tastete nach Häusern, erfühlte Passanten, Kinder, Tiere. Alles verblasste. Herr Schlommko sah vor sich einmal mehr die Erscheinung der Frau von den Baumwipfeln. Ja. So würde er sie nennen. Die Frau von den Baumwipfeln.


Valeria fand sich wieder in einem Meer aus Schwarz, Grau und Weiß. Leere. Nur vor ihr, da war er wieder. Der Mann im Mantel. Valeria versuchte, zu sprechen, doch ihre bleiern pelzige Zunge verweigerte ihr den Dienst, klebte an ihrem Gaumen. Valerias Gedanken rasten. Was wollte er? Wusste er von der Symbiose? Wie viel verstand er? Sie wollte die Hände heben, gestikulieren, doch die schlaff herab hängenden Muskeln zitterten nur folgten ihrem Denken nicht.


„Wer bist Du?“ Herr Schlommko legte all seine Kraft in seine Stimmlichkeit, wurde zur Stimme, hallend, echoend. Er musste wissen, was hier geschah. Die Fremde war der Schlüssel. Die Frau von den Baumwipfeln.


Valeria schrak. Der Fremde bewegte die Lippen und die Welt erbebte. Die grauen und schwarzen Schleier, die sie beide umgaben, gerieten in wabernde Wallung, gischteten hoch und fielen. Sie spürte den Hall seiner Stimme, der Stimme, in ihrem Innern.


Wer bist DU?“ Ein zweites mal hallte die Stimme durch das Nichts, erschütterte die Welt oder das, was die Welt zu sein schien.


Der zweite Ruf durchbrach die Mauer der Lähmung, Valeria spürte Veränderung, die grauschwarweiße Welt um sie herum kollabierte, der Boden unter ihren Füßen ergrünte, Bäume erwuchsen vor ihren Augen aus dem Nichts, entfalteten ihre Äste, eine neue Welt, eine andere.


Herr Schlommko war perplex, überwältigt von dem, was um ihn herum geschah. Eine ganze Welt entstand um ihn herum. Erst der Boden unter seinen Füßen, der sich von ihm und der Fremden aus ausbreitete, dann Bäume, Pflanzen, ein Firmament von anmutiger Schönheit entfaltete sich über ihm, bläuliche Schleier vor dem flackernd tanzenden Licht der Sterne. Nach einigen Augenblicken realisierte Herr Schlommko, dass er auf einer Lichtung stand, die Fremde, die Frau von den Baumwipfeln, dort stand sie, nur zehn, vielleicht zwanzig Schritt entfernt. Herr Schlommko ging langsam auf sie zu.

Traumlichtung

Valeria sah den Mann, langsam wankend, auf sich zukommen. Die Zeit fühlte sich an wie warmer Honig. Wabernde Ornamente lösten sich von Armen und Beinen des Mannes, durchschnitten die Luft wie unendlich langsame Tentakeln einer schillernden Seeanemone. Ein Wimpernschlag zog sich zur Unendlichkeit. Valeria setzte einen Fuß vor den anderen und Schritt auf den Mann zu. Sein zerschlissener Mantel wehte in bizarrer Langsamkeit im hauchenden Wind der sanfte Lieder flüsterte.


Herr Schlommko sah die Frau von den Baumwipfeln an, ihr Haar waberte wehend als wäre sie in einen See hinab getaucht, ihre Augen leuchteten in blassem Feuer. Die Welt um sie herum beschleunigte, nahm fest greifbare Form an.


Sie standen jetzt nur noch die Winzigkeit eines Schrittes auseinander, sahen sich in die Augen.


„Wer bist Du?“ hörte er Schlommko sich fragen.


Valeria begann zu erzählen, mit langsamer, warmer Stimme. Erst unsicher, zittrig, dann an Kraft gewinnend, erzählte sie Herrn Schlommko von ihrer Geburt. Sie gehörte einer alten Art an, einer Art, die ihr gesamtes Wissen von Generation zu Generation weitergibt. Der Moment ihrer Geburt war gleichzeitig der Moment ihres Todes und beides nahm sie in diesem Moment wahr wie ein plötzlich Entstehendes Vakuum, welches eine Explosion gebar. Herr Schlommko lauschte gebannt und während er lauschte, manifestierte sich Valerias Geschichte in der Welt, die sie erschaffen hatten.


Valeria erzählte von ihrem vorherigen Sein, der Entdeckung des Kulvus, jener Bronzenen Scheibe, die nun sicher verwahrt an Herrn Schlommkos Seite ruhte, sanft pulsierend. Herr Schlommko konnte die Bedeutung der Erzählungen über den Kulvus nicht erfassen, es schien, als entziehe sich die Erkenntnis seinem Selbst wie ein nebelhafter Schleier, den zu greifen man zu können glaubt, der sich in den Händen aber verflüchtigt.


Herr Schlommko lauschte Valeria. Er verstand kaum noch, was sie sagte, doch er lauschte weiter. Ließ ihre Worte auf sich wirken wie Regentropfen auf einen See fielen, gedankenlos, mit dem Herzen lauschend, begriff er, dass er Teil von etwas geworden war, das größer war als sein Geist zu erfassen in der Lage war.


Kraft ging vom Kulvus aus, das begann er, zu verstehen. Valeria erzählte, erzählte von den Kräften des Kulvus, über die Zeit und den Raum zu gebieten, der Kulvus sei zugleich hier, dort und überall, eine Schleife unendlicher Größe und gleichzeitig so winzig, ungreifbar, fort.


Valeria berichtete von ihrem Versuch, den Kulvus zu schützen und vom Auftauchen Herrn Schlommkos an jenem dunklen Firmament, in jener schattenumwobenen Nacht, in der er ihn an sich riss. Sie berichtete von ihrem Verfall, ihrer Jagd, seiner Flucht. Berichtete von den Dicken Männern, die sie aus den Abfällen der Zeit zu formen im Stande war, aus jener verlorenen Lebenszeit bewusst die Zeit erlebender Wesen, jener Zeit, die nur verbraucht wurde, ohne zu leben, nur um zu sein. Sie berichtete von der Höhle, dem
Traum, in dem sie jene Nacht noch einmal durchlebte, die Verschmelzung.


Herr Schlommko begriff schattenhaft, dass sie Eins geworden waren, dass Valeria, wie es auch möglich war, einen Platz in ihm eingenommen hatte. Valeria war sicher, ihr Körper schlief noch in jener Höhle, in der der Älteste sie zur Ruhe gelegt hatte, doch ihr Geist war nun hier. Zurück beim Kulvus um den ihr ganzes Sein seit ihrer Geburt strömte.

Torg

Ratternd rumpelte der Dampfkarren durch die äußeren Bezirke als ein heftiger Knall Herrn Schlommko aus seiner Wanderung erweckte. Seine Hände zu Fäusten geballt, troff Schweiß zwischen seinen Fingern hervor, verwusch die rußige Schicht auf seiner Haut zu einem widerwärtig klebrigen Schleier.

Herr Schlommko suchte in seinem Geist nach dem gerade erlebten, doch es entzog sich ihm. Schleierhaft erahnte er in seiner Erinnerung den Namen Valeria, er wusste nun, dass sich unter seinem linken Arm, sicher verschnürt, etwas verbarg, dessen Name „Kulvus“ war, erahnte die Macht dieses kleinen Dinges.


Der Dampfkarren machte einen Satz, als er eine kurze Steigung hinaufkroch und dann verharrte. Herr Schlommko erahnte in seinem Versteck aus dem Augenwinkel, dass der Karren eine metallische Plattform befahren hatte. Schon in diesem Moment setzte sich der Karren lautlos gleitend mitsamt der Plattform in Bewegung.
Herr Schlommko blickte nach hinten und sah den sanft pulsierenden Magnoweg unter dem Karren vorbeiziehen. Während er sich auf der kleinen Plattform am Heck des Dampfkarrens festhielt, riss ihn plötzlich etwas von den Füßen nach oben, ließ die Welt um ihn herum wirbeln, oben unten und unten oben werden. Das Chaos stoppte, und er sah in das bärtige Gesicht des Kutschers, strampelnd hängend am ausgestreckten Arm dieses schmutzverkrustet glänzenden halbnackten.

„Na… da hat aber einer Problemsche, nüsch?“ Sagte der Kutscher mit kratzig tiefer Bass-Stimme, und setzte Herrn Schlommko unsanft oben auf dem Karren ab. Während in Herrn Schlommkos Kopf Panik ausbrach, begannen seine Hände, sich entspannt zu recken und zu strecken, das Blut in die Finger zurückzutreiben. „Was macht scho’ne Figur wie Du hier auf mein‘ Karren? Hascht Ärger?“


Herr Schlommko
blickte den Mann an. Da ihm gerade partout nichts besseres einfallen wollte sagte er nur „Ich bin Carl Schlommko.“ Der Mann schaute zurück, lachte und sagte „Torg, isch bin Torg! Gema rein.“ öffnete eine Luke im Dach des Karrens und zerrte Herrn Schlommko mehr purzelnd als hangelnd ins Innere des Dampfkarrens.


Die Kammer, die Torg als Wohn- und Schlafraum zu dienen schien, war geradezu abstrus klein, durchzogen von einem übewältigenden Gewirr an Rohren und Röhrchen, Kabeln und Strippen. Sich darin zu bewegen war mehr ein Klettern und Kriechen als ein Gehen, und inmitten dieses Gewirrs standen ein roter, flauschig bezogener Ohrensessel, in den Torg sich behende plumpsen liess. Herr Schlommko liess sich auf einem gepolsterten Kasten nieder. Diese Kammer war sicher nie ersonnen worden, ein Wohnraum zu sein. Noch weniger aber war sie geeignet, Gäste zu beherbergen.


Torg erwies sich als guter Zuhörer und Herr Schlommko begann, seine Geschichte zu erzählen, stets darauf bedacht, den Kulvus ebenso wie seine Traumwelten nicht zu erwähnen. Torg unterdessen, immer wieder bestätigend aber unverständlich brummend, befasste sich damit, in einer kleinen Kanne ein heißes Gebräu aus Wasser unter Kräutern zuzubereiten, dessen Duft schon bald die kleine Kammer durchdrang und durchzog, in jede Ritze Herrn Schlommkos drang und ihn bis in seine Seele durchströmte.


Über die Hälfte des Dampfkarren war der Kohleraum, in dem kleine Kohlekekse ihrer Verbrennung im heissen Kessel harrten. Ein Band zog die Kohlekekse in den Kessel, wenn dieser lief, ein kleiner elektrifizierter Generator gab den ersten Impuls. Herr Schlommko erzählte und erzählte, während der Karren sanft über den Magnoweg glitt und dessen sanftes pulsieren in seinen Geist schlich, bis er friedlich in einen traumlosen Schlaf sank.


Ein heftiges Rumpeln liess Herrn Schlommko aufschrecken, als der Dampfkarren zum Leben erwachte, er blickte sich um, das Feuer im Kessel brannte, der Karren setzte sich keuchend und rumpelnd in Bewegung. Herr Schlommko griff nach oben, öffnete die Luke, und schaute hinaus. Die Landschaft war hier bunter, grüner, frischer als am Beginn seiner Fahrt auf dem Magnoweg. Wie lange, wie weit waren sie gereist? Er schwang sich auf das Dach des Karrens und kroch, nach Halt suchend, vor zu Torg, der breit grinsend einen Stumpen brennenden Krauts zwischen den Lippen balancierte und zielstrebig auf einen Hügel zusteuerte, der sich weit vor ihnen aus der Landschaft erhob.


Der Karren rumpelte über die Landschaft, tiefe, furchige Narben im urbaren Boden hinterlassend, jede Unebenheit des Untergrunds in heftige Stöße verwandelnd, die Herrn Schlommko und Torg gleichermaßen beutelten, schüttelten und malträtierten. Erst mit der wabernden Dämmerung erreichte der stoisch dahinrollende Dampfkarren sein Ziel. Der Kessel verstummte und sank in tiefes, knisterndes Schweigen. Torg sprang herab und begann, die Beute seiner Reise in die pulsierende Stadt energisch aus dem Karren zu zerren. Herr Schlommko hangelte sich auch von dem Karren und stand verloren vor dem Hügel, der sich tatsächlich als ihr Zielt herausgestellt hatte. Hoch wie 5 Mann war der Hügel, inmitten einer doch überaus flachen Landschaft, die sich in allen Richtungen, nur von einzelnen, einsamen Bäumen und kleinen, verloren wirkenden Wäldchen unterbrochen, erstreckte.

„Hier, nimmsch’mit“ sagt Torg, Herrn Schlommko eine große, aber überaus leichte Kiste aus Plast in die Hände drückend. Herr Schlommko packte an und marschierte Torg hinterher zu der eben mannshohen Tür, die ins innere des Hügels führte.

Generatoren surrten leise auf, als sich die Tür lautlos öffnete. Dämmerig trübes Licht durchflutete träge einen großen Raum. Das innere des Hügels schien komplett ausgehöhlt. Ein Gewirr an Stegen, Leitungen und Strippen durchzog die gewaltige Halle, die die Kammer im rumpelnden Dampfkarren blass und übersichtlich erscheinen liess. Überall im Raum stapelten sich Holz- und Plastekisten, in verschiedenen Zungen beschriftet oder unbeschriftet. Torg deutete Herrn Schlommko, wo seine Fracht abzuladen war, Herr Schlommko folgte.


Als alles seinen Platz gefunden hatte, brach Torg einen großen Laib brüchig krümeligen Brots entzwei, aus dessen Inneren ein grünlicher Brei troff. Er reichte Herrn Schlommko eine der Hälften und biss gierig in die eigene.
Herr Schlommko roch an der muffig grünen Substanz, befand, dass der Hunger nun drängender war als die Vorsicht, und tat es Torg gleich. Gemeinsam hockten sie schweigend vor einem Stapel unterschiedlichster Kisten und Behältnisse und vertilgten ihre karge Mahlzeit. Danach deutete Torg Herrn Schlommko zu einer flach gepolsterten Pritsche. Herr Schlommko nahm dies dankend an und legte sich, endlich wieder festen Boden unter den Füßen, auf die Pritsche, liess sich vom becircenden Surren des Generators in den ersten ruhigen Schlaf seit Tagen sinken. Er wusste nicht warum, doch er fühlte sich hier sicher. So sicher, wie seit langem nicht.

Weiter auf Herr Schlommko Teil 3

(Hier auch als ePub und PDF zum Download: Herr Schlommko – eBook)

Datei Status: 23.05.2014, Downloads: 2027 (application/zip)

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