Kultur sucht Sucht oder sucht Sucht Kultur oder ist Sucht eine Heimsuchung?

Aus einem gerade gelesenen Artikel des Tagesspiegel zum Thema E-Zigarette:

Bei der Ablehnung der E-Zigarette mögen auch moralische Gründe im Spiel sein. Die Sucht gilt als Charakterschwäche.

Das regt doch zum Denken an. Ist „Sucht“ Charakterschwäche?

Nunja, zuerst einmal definieren sich manche Suchtverhaltensweisen, die zu Nikotin gehörige zählt dazu, zu durchaus pathologisch indizierten. Natürlich spielt beim Rauchen auch die psychische Sucht eine Rolle, das Gefühl, sich an etwas festzuhalten, orale Befriedigung blablabla, aber es bleibt auch der rein körperliche Faktor, der im Körper spürbares Hungergefühl auslöst, wenn die Nikotinzufuhr gekappt wird.

Dem entgegen steht eine Art Hochgefühl, wenn Suchtverhalten bedient wird. Ob nun beim Drogen- oder beim Adrenalinsüchtigen, beim Selbstsüchtigen oder beim zwanghaften Menschenfreund. Wird das Suchtverhalten bedient, belohnt der Körper das mit Endorphinen, diesen sagenumwobenen kleinen Glücksspendern. Schokolade kann das auch hervorragend, ebenso Alkohol.

Problematisch bei allerlei Suchtverhaltensweisen ist doch garnicht die Sucht selbst, sondern viel mehr die Nebenwirkungen, am meisten jene, die sich auf andere, auf unbeteiligte Dritte auswirken, die gilt es zu vermeiden. Was aber ist mit Suchtverhalten, das sich nicht oder positiv auf das Umfeld auswirkt?

Ich kenne durchaus Menschen, die sind süchtig nach Sauberkeit und Ordnung. Da werden massive Freizeitanteile in Tätigkeiten gesteckt, die ben diesen Zustand herstellen. Der Gesichtsausdruck und das tief befriedigte Seufzen wenn diese Leute nach verrichteter Suchthandlung ins Sofa sinken verrät den zur Sucht gehörenden Endorphinschub. Charakterschwäche? Ich glaube nicht, zumindest solange es nicht neurotisch wird.

Widmen wir uns aber dem eigentlichen Suchtverhalten, auf das sich das Zitat wohl bezieht. Rauchen, Alkohol, Drogen.

Nun will ich mal zerstörerische Drogen aus dem harten Segment ebenso ausklammern wie das exzessive Trinken bis zum Delirium und fragen, welchen Stellenwert „Sucht“ für den Menschen hat.

Ist Sucht böse?

Ich persönlich würde mich, ohne mit der Wimper zu zucken, als Nikotinsüchtig bezeichnen. Damit kann ich sehr gut leben. Die Zigarette, oder jetzt die Dampfe, bietet mir ein Stück weit körperliche Befriedigung und Genuß, das mit dem Genuß kriegt die Dampfe auf Grund des deutlich besseren Geschmacks besser hin als die Tabakzigarette, das mit der körperlichen Befriedigung nicht ganz so gut, da einfach dieses „Kribbeln“ fehlt, das im Körper verstömendes hochschädliches Kohlenmonoxid bewirkt. Durch die Befriedigung eines Suchtverhaltens kann ich meinem Körper gezielt Endorphin zuführen, etwas Entspannung gewinnen und manche Situation so, wenn auch nicht besser, so doch etwas unabhängiger von äußeren Einflüssen lösen. Ich kann Wut auflösen, Ruhe herstellen.

Dem Entgegen steht der Mangel, dem eben die Störenden Faktoren auf Grund nichtbefriedigten Suchtverhalten sogar noch verstärkt werden. Das ist dann die Kehrseite. Glücklicherweise bin ich dagegen nach allgemeinem Dafürhalten einigermaßen resistent, so dass ich nicht unerträglich werde, wenn mal ein Versorgungsengpass ist.

Alkohol, als Kulturdroge nummer eins, kann ganz ähnlich wirken, in Maßen genossen. Im Unterschied zum Nikotin aber wirkt Alkohol relativ heftig persönlichkeitsverändernd wenn falsch angewandt. Hierfür haben wir in unserer Gesellschaft relativ klare Regeln zum Beispiel im Straßenverkehr. Aber wie gesagt, das exzessive Trinken, will ich hier mal ausklammern, das ist ein anderes Phänomen, das Risiko allerdings, vom maßvollen zum exzessiven zu schliddern, sei durchaus erwähnt.

Der moderate Trinker also wird einen ähnlichen Effekt im Alkohol finden, wie der Raucher im Nikotin. Abrufbarer und kontrollierbarer Endorphinausstoss. Charakterschwäche?

Es gibt Wissenschaftler, die der Theorie anhängen, der Mensch habe sich zu Urzeiten nur deshalb lokal niedergelassen und sei sesshaft geworden, weil dies die einzige Möglichkeit war,  Alkohol in größeren Mengen herzustellen. Schon früheste Kulturen haben Alkohol produziert und konsumiert, teils rituell, teils einfach so. Der Ackerbau und das sesshafte Leben waren demnach verglichen zum nomadischen Leben keine Plus an Komfort oder Sicherheit, sondern ganz im Gegenteil. Das ziehende Leben musste selten Mangel leiden heisst es da. Das sesshafte hingegen war mit um so härterer Arbeit, einem getakteten Leben, eingschränkten Möglichkeiten verbunden. Sollte es wirklich so sein, dass unsere Kultur nur auf dem Umstand fußt, dass man sich niederlassen musste, um Alkohol verfügbar zu halten?

Ich weiß es nicht, aber zumindest als Faktor ist das durchaus vorstellbar.

Was zu beobachten ist, das ist, dass jede Kultur dieser Erde die eine oder andere Form von Sucht entwickelt hat. Nicht nur das. In den meisten Kulturen sind oder waren Suchtverhaltensweisen hohes Kulturgut. Ob das die Friedenspfeife der Indianer, der Messwein des Christentums, die Shisha im arabischen Raum, Kräuter die gekaut werden, Weihrauch, Absinth, da werden vergorene Pflanzen gegessen, da werden Pflanzen verbrannt und der Rauch eingeatmet und alles im Namen der Kultur.

Erst die letzten Jahrzehnte haben aus dem kulturellen Suchtverhalten eine Verhaltensstörung gemacht. Der Mensch hat suchtfrei zu funktionieren. Wo endet Genuß und wo beginnt Sucht? Die Grenzen verschwimmen heute. Zu Ungunsten des Genusses. Und damit leidet dann auch der Genuss an sich, schwingt doch immer auch der Selbstverdacht oder Fremdverdacht mit, süchtig zu sein.

Ich frage mich: Braucht eine Kultur Freiraum für Sucht? Bewegen wir uns auf einem Irrweg, wenn wir versuchen, die Sucht aus der Gesellschaft zu verbannen? Oder versuchen wir hier, etwas auszumerzen, was essenziell wichtig für gesellschaftliches Miteinander ist?

Ich persönlich glaube ja, dass wie bei so vielem, es eine Frage des Maßes ist. Ein etwas entspannterer Umgang mit dem Thema Sucht an sich, ohne die Ernsthaftigkeit schädlichen, vor allem fremdschädlichen Suchtverhaltens, auszuklammern oder aus den Augen zu verlieren.

Abschliessend würde ich sagen: Der Mensch hat einen natürlichen Hang zum Suchtverhalten. Klar. Endorphin ist toll und Befriedigung von Suchtverhalten macht Endorphin.

Extreme Drogen substituieren das körpereigene Endorphin durch was anderes, was überwiegt, da wirds gefährlich. Solange wir aber von Suchtverhalten reden, das primär darauf abzielt, die körpereigene Endorphinproduktion zu triggern, kann ich persönlich daran erstmal wenig Charakterschwäche erkennen. Ausnahme ist immer da, wo unbeteiligte Dritte in irgendeiner Form geschädigt werden.

Wie wichtig ist Suchtverhalten für die Kultur? Als Antrieb oder als Soziales Element? Wie sinnvoll ist es, Sucht schon in Ansätzen zu stigmatisieren?

Die E-Zigarette bietet einen hervorragenden Ansatz für diese Diskussion, da hier nun ein bislang eindeutig und in hohem Maße für unbeteiligte Dritte schädliches Suchtpräparat durch etwas subtituiert wird, das mittlerweile nachgewiesen hat, diese Schädlichkeit soweit man das sagen kann, zu eliminieren.

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